ROCK HARD 101

Tuten und Blasen in Angel City

Dan Spitz, Leadgitarrist und Gründungsmitglied von ANTHRAX, hat die New Yorker Kapelle während der Produktion des neuen Albums "Stomp 442" nach über einem Dutzend gemeinsamer Jahre verlassen. Wie die Band nach diesem Schnitt im Studio improvisierte und was die Milzbrand-Mosher voraussichtlich abliefern werden, brachte Michael Rensen vor Ort in L.A. in Erfahrung.

Nachdem ich sowohl in Hamburg als auch beim Zwischenstop in Atlanta von peniblen Sicherheitsbeamten aufs gründlichste gefilzt worden war (lange Haare, abgewetzte Klamotten - fertig ist der potentielle Terrorist), kündigte sich in L.A. die nächste Unannehmlichkeit an: Das Bus- und Shuttlesystem erwies sich gegen Mitternacht als unüberwindbare intellektuelle Hürde, so daß mich der vermeintlich richtige Bus irgendwo am Arsch der Heide absetzte. Auf meiner Suche nach dem nächstbesten Anschluß bot mir ein völlig wirrer Freak seine Hilfe an, allerdings nur unter der unappetitlichen Bedingung, daß ich ihm einen blasen würde. Glücklicherweise liefen mir gleich darauf einige Highschool-Lehrer über den Weg, mit denen zusammen eine Taxifahrt erschwinglich wurde. Die Typen waren ebenfalls Opfer des mysteriösen Nahverkehrssystems geworden, obwohl sie bereits seit Jahren in L.A. ihre Zelte aufgeschlagen hatten - really sick indeed! Immerhin erwiesen sich meine neuen Bekanntschaften als eingeschworene ANTHRAX-Fans, sprich als ideale Einstimmung auf das am nächsten Tag stattfindende Interview mit Scott Ian und John Bush.

"Es ist an der Zeit, daß die Leute das Musikhören wieder aufregend finden", poltert John los, als ich ihm und Scott in den Büros ihrer Plattenfirma gegenübersitze und unvorsichtigerweise gefragt habe, wie es denn um die Grunge-Epidemie in den Staaten bestellt ist. "Einige dieser Bands klingen gar nicht so schlecht, aber die ganze Schiene hat sich mittlerweile wirklich totgelaufen. Was wir brauchen, ist Uptempo-Mucke, Bands, die wieder ordentlich nach vorne powern. Daß das Foo Fighters-Debüt sehr metallisch ausgefallen ist, könnte ein erster Hoffnungsschimmer sein."

"Diese Grunge-Songs laufen doch alle nach demselben Muster ab", mischt sich der mittlerweile ziegenbartlose Scott ein. "Zuerst kommt ein schleppendes Intro, dann läßt man die Gitarren krachen, um schließlich die Strophe nur mit Drums und Baß zu begleiten. Nirvana haben das x-mal vorexerziert, und jetzt taucht in den Charts jede Woche eine neue Band auf, die in weinerlicher Manier genau diese Masche herunterleiert. Manchmal möchte ich diese Typen ordentlich durchschütteln und sie anschreien: ´Hey, hört auf, Valium zu schmeißen, packt die Heroinspritzen weg und macht Schluß mit dieser verdammten, depressiven Musik.´ Aber vielleicht kann unsere Platte ja etwas anderen Wind in die Szene bringen. Wer keinen Bock mehr auf Musik hat, die einem die Tränen in die Augen treibt, sollte sich "Stomp 442" zulegen."

Daß das neue ANTHRAX-Album eine lupenreine Thrashgrätsche gehobener Güteklasse geworden ist, dürfte bereits nach dem ersten Antesten unüberhörbar sein. Die verworrenen Umstände, unter denen der Longplayer entstand, merkt man dem Endprodukt zu keiner Sekunde an.

John erinnert sich: "Unsere letzte Tour in den Staaten liegt tatsächlich schon anderthalb Jahre zurück. Im Oktober ´94 fingen wir dann endlich mit dem Songwriting an. Zu jenem Zeitpunkt hatten wir uns bereits von unserem langjährigen Wegbegleiter und Manager Jon Zazula (Megaforce-Gründer - mr) getrennt, mit dem wir allerdings weiterhin eng befreundet sind. Eigentlich sollten die Songs im Dezember stehen, aber wir merkten, daß wir diesmal einfach mehr Zeit brauchen. Manch einer mag uns Faulheit vorwerfen, doch wir haben wirklich hart an unserem Material gearbeitet. Jeder fertiggestellte Part inspirierte uns zu neuen, besseren Riffs und Arrangements. Als wir endlich zufrieden mit uns waren und ins Studio gingen, mußten wir allerdings schon nach wenigen Tagen Dan Spitz nahelegen, mit seinen Gitarrenkünsten künftig unter anderer Flagge zu fahren, weil er sich kaum noch bei uns engagierte. Während alle anderen ihr Herzblut für die neue Scheibe vergossen, wurde Danny immer lustloser. Na gut, er hat mittlerweile Frau und Kind, aber verflucht, du mußt unsere Musik einfach leben und atmen, um das Beste aus dir herauszuholen. Ob wir einen neuen Gitarristen fest in die Band aufnehmen, wissen wir zur Zeit noch nicht. Möglicherweise werden wir es lassen und uns live von einem Gastmusiker aushelfen lassen. Für das Album haben Darrel von Pantera, Dannys Gitarrenroadie Paul und unser Drummer Charlie die Soli eingespielt."

Daß sich gerade Charlie Benante die Frickelklampfe umgeschnallt hat, verwundert doch ein wenig. Drummer mit einem Faible für Solo-Sechssaiter dürften überaus rar gesät sein.

"Charlie schreibt phantastische Songs und beherrscht die Gitarre aus dem Effeff", begeistert sich John. "Neben seinen Soli bei ´Tester´ und ´Nothing´ spielte er auch die Akustikgitarre zu ´Bare´ ein. Aber letztlich wird er natürlich weiterhin seinen Drums treu bleiben. Schade eigentlich, daß ich nicht talentiert genug bin, sonst könnte ich die Sologitarre übernehmen, und ANTHRAX wären fortan als Fourpiece unterwegs." Was mich an ANTHRAX immer gestört hat, war die übermäßige Bass-Dominanz. Bei "Stomp 442" dagegen schallt mir völlig unerwartet ein astreiner Thrash-Sound entgegen.

"Da hast du nicht ganz unrecht", stimmt mir Scott zu. "Heavy Metal wird in erster Linie von den Gitarren bestimmt, und genau das konnten wir jahrelang auf unseren Studioscheiben nicht richtig rüberbringen. "Among The Living" kam verdammt nahe an den idealen Sound heran, aber das lag vielleicht auch daran, daß die Songs dir durchgehend mit vollem Tempo in die Fresse traten. Erst jetzt, anno ´95, klingen wir wie eine gutgeölte Maschine. ANTHRAX sind endlich auch auf Rille die ANTHRAX, die sich live und im Proberaum die Seele aus dem Leib spielen."

Bei den Recording Sessions soll neben Coversongs von Iron Maiden, Celtic Frost und Hüsker Dü sogar ein Track von Cannibal Corpse zum Einsatz gekommen sein. "Wir haben ´Hammer Smashed Face´ eingeprobt", bestätigt Scott, "aber aufgenommen wurde die Nummer nicht. Ich finde diesen Todeskram interessant, weil er manchmal klingt, als ob ein Haufen Wahnsinniger im Hochgeschwindigkeitsrausch Rush- oder Zappa-Songs herunterbrät."

John röhrt im Hintergrund wie ein abgestochener Elch und verdreht die Augen: "Wenn ich Bon Jovi-Videos sehe, in denen die Musiker auf der Bühne schwitzen und ächzen, denke ich manchmal: Laß diese Typen einen Song von uns spielen, und sie verrecken an Herzversagen. Bei manchen Death Metal-Bands dagegen frage ich mich ernsthaft, wie die so einen progressiven Kram überhaupt behalten können."

Außer den oben genannten Coversongs sollen ANTHRAX auch einen reichlich schrägen Werbesong für Kiss-Puppen in Angriff genommen haben. Scott: "Es handelt sich um jenen Song, mit dem Kiss ´77 oder ´78 für ihre Püppchen warben. Das Teil dauert gerade mal 25 Sekunden, und wir spielten es just for fun ein. Gene Simmons meinte übrigens, daß wir anscheinend nicht genug zu tun hätten, wenn wir nun schon solch abgedrehte Sachen covern. Aber ich glaube, unsere Version hat ihm ziemlich gut gefallen."

"Möglicherweise lassen wir demnächst auch ANTHRAX-Puppen anfertigen", fügt John hinzu und schneidet ein paar völlig bescheuerte Grimassen. Gene Simmons´ Bemerkung bezüglich mangelnder Auslastung dürfte allerdings nicht völlig aus der Luft gegriffen sein, wenn man weiß, daß fast alle ANTHRAXer noch in Side-Projekten tätig sind. John sang laut eigenen Angaben vor einiger Zeit in einer R&B-Formation, während Charlie und Scott mit einigen Kumpels Hüsker Dü-Tracks verhunzen und ansonsten "echtem, traditionellem Brüllhardcore mit maximal zehn Sekunden langen Songs" (O-Ton Scott) frönen. Das Verhältnis zum ehemaligen Sänger Joey Belladonna, der jüngst seinen ersten Solo-Output auf die Welt losließ, scheint jedoch nicht ausreichend trübungsfrei zu sein, um noch zusammen zu jammen.

"Auf seiner Platte finden sich Songtitel wie ´Two-Faced Band´ und ´Rob Me Blind´", erklärt Scott. "Keine Ahnung, ob er uns damit meint, aber es könnte gut sein, daß er ein wenig sauer auf uns ist. Wenn er sich so unwohl bei uns gefühlt hat, frage ich mich allerdings, warum er nicht schon viel früher gegangen ist."

Mehr lassen sich die ansonsten überaus redseligen ANTHRAX-Frontleute zu diesem Thema nicht entlocken. Größerer Beliebtheit erfreut sich bei ihnen die ewige Streitfrage, ob und wieviel politisches Engagement Rocksongs vertragen können.

"Wir drücken unsere Meinungen lieber indirekt als durch hohle Phrasen aus", läßt Scott verlauten. "Ich erinnere mich noch gut an die Präsidentschaftswahlen ´92, als Dave Mustaine für Bill Clinton die Werbetrommel rührte. Mein Gott, dachte ich damals, wen interessiert es denn, was Dave über Politik erzählt? Ich will schließlich auch keine Rezension des neuen Megadeth-Albums lesen, die Bill Clinton verzapft hat. (Würde uns allerdings brennend interessieren! - Red.) Clinton soll sich um seinen Regierungskram kümmern, und von Dave will ich höchstens wissen, wie er seine Riffs spielt. Dieses ganze Gefasel von sozialkritischen Texten geht mir echt auf den Zeiger. Jeder Mensch ist in gewisser Weise sozialkritisch, warum sollte man das also an die große Glocke hängen? Außerdem, was ändert sich schon dadurch? Wir haben einmal einen Song über Obdachlose geschrieben, Phil Collins landete einen Riesenhit mit ´Another Day in Paradise´, doch verändert hat sich letztlich nicht viel. Natürlich liegt uns viel daran, niveauvolle Texte zu fabrizieren, aber wir haben auch diesmal nicht davor zurückgescheut, einen Song über das Saufen zu schreiben. Früher, als Mötley Crue einen Suff-Hit nach dem anderen runterjaulten, haben wir davon natürlich die Finger gelassen, aber jetzt, wo die ganze Welt unbedingt politically correct sein will, empfinde ich es als sinnvolles Gegengewicht."

"Ein anderer Song, ´Inner Zone´, handelt von unserer gemeinsamen Zeit in New York", klinkt sich John ein. "Wir hausten damals in einer Wohnung, vor der jeden Morgen um vier die Müllabfuhr entlangdonnerte. Es war unglaublich laut! Nach einigen Tagen hängten wir uns regelmäßig morgens aus dem Fenster, beschimpften die Müllfreaks und rasteten dabei total aus. Am liebsten hätten wir sie erschossen, aber das wäre ziemlich ungesund für uns gewesen, weil die gesamte New Yorker Müllabfuhr der Mafia gehört."

Abschließend wagt John noch einen Ausblick auf das vielzitierte "True Metal-Revival":

"Ich glaube, daß sich wieder einiges bewegt. Darrel von Pantera hat uns beispielsweise ausgeholfen, ohne daß seine Band oder sein Label sich anpißten. Andersherum würde ich und jeder bei ANTHRAX genauso handeln und allen Combos, die wir mögen, in der Not zur Seite stehen. Früher war das selbstverständlich, und ich glaube, daß viele Bands ihren Gemeinschaftssinn noch nicht verloren haben. Vielleicht wird es auch bald wieder möglich sein, eine "Clash Of The Titans"-Tour durchzuziehen wie vor einigen Jahren mit Slayer und Megadeth. Insgesamt gesehen, zieht sich der echte Metal in den letzten Jahren wieder etwas in den Underground zurück, und ich glaube, daß ihm das nicht geschadet hat. Zu unseren Anfangszeiten, als wir genau wie Iron Maiden oder Metallica noch in muffigen Garagen probten, kam jede Woche eine geile, innovative Scheibe raus, was man vom aktuellen Markt kaum behaupten kann. Wenn heutzutage allerdings ein Typ wie Ozzy in kleinen, aber proppevollen Clubs auftritt, anstatt riesige Hallen anzumieten, dann spürst du wieder diese Vibes, dann befinden wir uns definitiv auf dem richtigen Weg."

Michael Rensen

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