ROCK HARD 136

Steigende Aktienkurse

Gold regnete es noch für “Sound Of White Noise“ zumindest in den USA für ANTHRAX. Die New Yorker konnten zufrieden sein und sich auf ihr neues Kabinettstückchen konzentrieren. Trotz Krise im Metal-Geschäft stürzten sie sich nicht aus dem Fenster. Hanno Kress unterhielt sich mit den geschickten Heavyrock-Brokern.

Draußen verteilt Petrus per Gießkannen-Prinzip sein Naß auf Köln, und Scott Ian verbrennt sich gerade an einer Tasse Kamillentee die Zunge.

"Trotz Erkältung würde ich nie eine Show canceln. Wenn du in einer Band spielst, dann kannst du nicht einfach blaumachen wie in einem normalen Job. Die Band hält mich ganz gut in Schuß. Ich stemme jeden Morgen Gewichte, die so um die 35 Pfund wiegen, und ich jogge. Ohne den Trubel im Musikgeschäft wäre ich wahrscheinlich dick, faul und käme nicht aus dem Bett."

Nicht gerade mitleidig sieht ein kurzgeschorener John Bush seinen Kollegen an.

"Als Sänger darf ich mir natürlich am wenigsten einen Infekt einfangen. Von Medikamenten gegen Grippe laß ich die Finger, weil die deine Schleimhäute austrocknen, und dann ist alles zu spät. Ich hasse Tee, aber wenn´s sein muß, schenke ich mir ein Gebräu aus Kräutern ein. Das beste Mittel ist immer noch eine schweißtreibende Show, bei der ich die Erkältung ausschwitze."

Viel Zeit zum Ausruhen haben die New Yorker ohnehin nicht, denn heiße ANTHRAX-Auftritte sind nach wie vor in den Staaten begehrt.

"Zu unseren Shows kommen viele junge Kids. Ich weiß nicht, wo sich die Leute ab 25 verstecken. Ich finde es komisch, daß sich die Fans von der härteren Musik zurückziehen, wenn sie älter werden."

Die hören laut Scott "nur noch Elvis und Hootie & The Blowfish..." Oder vielleicht Cyco Miko, dessen RH-Anzeige zum “Lost My Brain“-Album Scott und John eingehend studieren.

"Die letzten Sachen der Suicidal Tendencies haben mir nicht so gut gefallen. Vielleicht war es für sie wirklich an der Zeit, sich aufzulösen. Ich glaube, daß das Potential von ANTHRAX dagegen noch lange nicht ausgeschöpft ist."
John erzählt: "Gestern stand ein Typ neben mir, der durch die Cyco Miko-Platte gezappt ist, ohne daß ich einen Eindruck von den Songs bekommen konnte. Komisch, wie sich die Leute heutzutage eine Meinung über einen Release bilden. Für mich waren die Suicidal Tendencies ihrer Zeit immer ein bißchen voraus. Manchmal ist es leider so, daß andere Leute, die später dazustoßen, letztendlich den Reibach machen." Während die Original-Helden abdanken oder mit belanglosen Produktionen langweilen...

"Wenn mir die Musik keinen Spaß mehr macht, fahre ich eben Snowboard", erfahre ich von Scott.
Tags zuvor hatten wir in der Redaktion gerätselt, ob der Glatzkopf immer noch seine Skateboards besitzt.

"Klar, aber Snowboarding gefällt mir besser. Die nächsten Trips gehen auf jeden Fall nach Südamerika und Neuseeland. In den Medien versuchen sie dir einzureden, daß es einen Zusammenhang zwischen Snowboarding, Skating und Hardcore gibt. Ich halte das für totalen Quatsch. Darf ich als Klassik-Fan dann diese Sportarten nicht ausüben? Ich persönlich hüpfe gerne über Sachen oder Felsen."

John Bush war früher ein Sportfreak und konsumiert jetzt höchstens noch...

"Basketball. Ich liebe die Celtics. Darüber lese ich alles, was ich zwischen die Finger bekomme. Momentan verfolge ich noch mit einem Auge Baseball und ein bißchen Eishockey. Fußball ist für mich zu langsam. Sie sollten fünf Spieler zusätzlich aufs Feld bringen, dann würden vielleicht mehr Tore fallen, oder sie sollten die Tore größer bauen. Was für Spannung kann bei einem Match aufkommen, das Null zu Null endet? Mich interessieren keine Verteidigungsstrategien, wie sie mir unser schottischer Tourbegleiter einmal schmackhaft machen wollte. Wahrscheinlich liegt es daran, daß die Konzentrationsfähigkeit der Amerikaner einfach kürzer geworden ist. Selbst im Basketball haben sie die Regeln so verdreht, daß mehr Körbe geworfen werden können."

Als Scott für Such A Surge den Samplerbeitrag einer Wrestling-Rockscheibe produziert hat, erfüllte sich ein Kindheitstraum. "Als Kid war ich ein großer Wrestling-Fan. Ich selbst bin für diesen Sport allerdings etwas zu klein geraten. Cool war, daß diese ganzen Muskelbrocken an einem Tag ins Studio kamen, um ein Video zu drehen. Dort haben sie mir verraten, wie abgekartet diese Turniere sind. Ich bin übrigens ein Anhänger vom “Undertaker“ ."

Die Klippen der personellen Wechsel haben ANTHRAX mit “Stomp 442“ sportlich sehr geschickt umskatet. Sie nähern sich unaufhaltsam einer neuen, aber für sie sehr typischen Variante des harten Metals. Gerade für den Heavy-Tenor Bush bedeutete diese Weiterentwicklung eine Herausforderung.

"Es ist wirklich nicht leicht, harte Musik runterzubrettern und trotzdem eine Melodie durchzuziehen. Das kostet dich einigen Schweiß. Das Ergebnis ist meiner Ansicht nach allerdings das Höchste, was du in diesem Sektor erreichen kannst. Viele Bands schaffen es nicht, die Vocals variabel zu gestalten, und brüllen lieber völlig hirnlos ins Mikro."

Der Ur-Milzbrand hält eine detailliertere Analyse bereit: "Früher in den Achtzigern haben wir uns auf jeder Scheibe gewandelt. Auf “Sound Of White Noise“ findest du erst gegen Ende drei wirklich herausragende Songs. (Wie bitte??? Die ersten beiden Nummern, ´Potters Field´ und ´Only´, sind die besten, die ANTHRAX je geschrieben haben! - gk) Ihren Geist haben wir für “Stomp 442“ übernommen, und prompt gefallen mir darauf sieben Stücke. Das “White Noise“-Ding war eine ganz normale, relativ unspektakuläre ANTHRAX-Produktion, die mich aber zuversichtlich gestimmt hat, was Johns Zukunft bei ANTHRAX anging. Unsere neue Identität kam mit diesem Burschen. Ich kann´s gar nicht fassen, daß wir das sind. Great, great, great..."

Völlig euphorisch und mit frischer Energie stürzte sich der gute Mann in die Promotiontour.

"Bei euch ähneln die Interviews mehr einem Sparring als einem Gespräch, aber die deutschen Journalisten sind ehrlicher. In den USA schleimt sich die Presse bei den Bands ein, weil sie sonst Ärger mit den Musikern oder mit der Plattenfirma befürchtet."

Womit wir beim Thema wären, daß gerade die älteren Metal-Recken momentan - Ozzy Osbourne mal ausgeklammert - blankes Mittelmaß abliefern. Den beiden laufen auch die Augen über, als ich ihnen die Plazierung von AC/DC und Iron Maiden im Rock Hard zeige.

"Als du erzählt hast, daß die neue AC/DC-Scheibe nicht das Gelbe vom Ei sei, mußte ich schlucken. Ich kenne einige Leute in Amerika, die deiner Ansicht sind, sich aber nicht trauen, ihre Bedenken auszusprechen. Heavy Metal hat weder was mit Mötley Crüe, Bon Jovi noch mit AC/DC zu tun, deren neues Album auch für mich eine riesige Enttäuschung ist. 1995 sind wir keine Grunge- oder Punk-Combo, sondern präsentieren einen Metal-Sound, der relevant ist. Iron Maiden fürchten sich scheinbar auch davor, einen Schritt nach vorn zu gehen."

Das liegt für mich daran, daß viele Bands einfach nicht kritikfähig sind und mit verletztem Ego in der Ecke sitzen. "Was heißt denn Ego?"
Daß sich beispielsweise ein Dave Mustaine beleidigt über die Verkäufe seines letzten Werkes äußert und die Schuld mal wieder bei den Medien sucht.

"Er sollte in den Spiegel schauen und sich fragen, ob “Youthanasia“ wirklich eine geile Produktion war", stellt Scott nüchtern fest.
"Wenn du Musik machst, steckt in den Songs sehr viel von deiner Persönlichkeit. Du sagst doch nicht: Hey, was hab´ ich für einen Scheiß aufgenommen. Da kommt ganz klar das Ego ins Spiel. Auch für mich war unsere musikalische Wende schwer zu verdauen. Heute bin ich 31 und habe in den letzten 15 Jahren ´ne Menge gelernt; deswegen rieselt bei mir doch noch lange nicht der Kalk aus den Gehirnzellen, und deswegen verschließe ich mich doch neuen Ideen nicht."

Prompt sprudeln aus ihm einige Bemerkungen zur eisernen Jungfrau: "Ich habe mir die Maiden-Platte angehört, und ich war wirklich mal einer ihrer größten Fans, aber das Teil hat mich endlos frustriert. Sie klingt zwar wie Maiden vor zehn Jahren, trifft dich aber nicht wie frühere Veröffentlichungen in den Magen. Noch 1987 wären die meisten Lieder der jetzigen Scheibe für Iron Maiden nicht gut genug gewesen. Ich sehe bei ihnen keine Weiterentwicklung."

Als ich frage, ob sich denn im befreundeten Musikerkreis über solche Themen ehrlich ausgetauscht wird, meldet sich John Bush wieder zu Wort.

"Normalerweise bist du erst Monate später fähig, dein eigenes Material etwas objektiver zu betrachten. Dave Mustaine würde ich meine Meinung geigen und hoffen, daß er die Kritik annimmt. Ich glaube, daß Megadeth im Heavy Metal noch einiges zu sagen haben. Darauf sind auch wir von ANTHRAX angewiesen, daß solche etablierten Bands nicht aufgeben und bessere Alben schreiben als der Rest, der momentan sein Unwesen im Musikgeschäft treibt."

"Ich erinnere mich, daß ich vor einigen Jahren in L.A. auf einer Party war. Dort stieß ich auf Glenn Tipton von Judas Priest. Er meinte so nebenbei: “Vielleicht sollten wir auf der nächsten Platte mehr in die Thrash-Richtung gehen, weil das die Leute wohl heutzutage mögen.“ Ich war von mir selbst überrascht, als ich mich ihm entgegnen hörte: “Nein, bleibt so, wie ihr seid. Macht eine geile Priest-Scheibe. Nichts anderes. Ihr seid doch die Begründer des Thrash Metals. Slayer oder Anthrax haben sich von eurer Musik inspirieren lassen.“ Normalerweise hätte ich mich niemals getraut, einer Musikerpersönlichkeit wie Glenn Tipton sowas nahezulegen. Wahrscheinlich war ich besoffen. Vielleicht sollte man den meisten Bands der alten Schule solche Worte ins Stammbuch schreiben."

Mit “Stomp 442“ haben ANTHRAX jedenfalls eine bessere Produktion aufgelegt als viele andere Kollegen.

"Kürzlich las ich ein Interview mit Flea von den Red Hot Chili Peppers, in dem er gefragt wurde, ob er glaube, daß “One Hot Minute“ ein Erfolg sei. Er antwortete: “Sie ist es jetzt schon - gleichgültig, wie viele Einheiten über die Ladentheke wandern.“ Als wir „Stomp 442“ gerade frisch eingespielt hatten, mußten wir zu einem dieser Geschäftsessen gehen, wo du nur über das Marketing sprichst. Ich war nahe dran, aufzuspringen und zu sagen: Mich interessiert dieser Kram überhaupt nicht, und ich laß mich nicht von euch runterziehen! “Oh, MTV-Einsätze werden schwer, Radio ist so gut wie gar nicht möglich...“ Wir wissen natürlich, was nötig ist, um eine Platte zu verkaufen, aber der reine Marketing-Aspekt scheint mehr und mehr im Vordergrund zu stehen."

Diese Ansicht teilt auch Mr. Ian: "Du bekommst einen Schuß vor den Bug, weil sie dir alle erzählen wollen, daß sich niemand für Heavy Metal interessiert. Wir waren nie eine MTV-Band oder ein großer Radio-Act. Warum also sollten wir uns jetzt darum kümmern? Eigentlich wollten wir gar kein Video produzieren, weil es einfach rausgeschmissenes Geld ist. Für Südamerika und Japan haben wir dann auf Anraten unseres Managers die Meinung geändert. Für die letzten Clips ging verdammt viel Kohle drauf, und von einem 150.000-Dollar-Budget müssen wir die Hälfte zurückzahlen. Also nehmen wir lieber 75.000 Eier und schauen, daß wir sie besser investieren, beispielsweise in Form von Fernsehwerbung. Dabei liegt es wenigstens in unserer Hand, ob diese Spots zwei Wochen vor Veröffentlichung bei „Beavis & Butt-Head“ plaziert werden."

Im Bereich des Bookings wundern sich selbst so ausgebuffte Profis wie die beiden Herren von ANTHRAX über die Fünfer-Band-Packages, die auch bei uns immer öfter durch die Lande ziehen.

"Megadeth sind gerade in den Staaten mit vier Vorgruppen getourt: Fear Factory, Korn, Flotsam & Jetsam und noch eine. Vom geschäftlichen Standpunkt aus macht das wohl Sinn. Trotzdem verstehe ich nicht, warum du so viele Bands für ein Hallen-Billing brauchst. Nach der dritten oder vierten Band haben die Fans doch die Nase voll. Mir würde das auch nicht gefallen. Und wenn schon die Musiker keinen Bock haben, sich an so einem Abend in einem Venue aufzuhalten... Was soll das dann? Ich würde gern mit AC/DC durch die Lande ziehen, weil wir noch nie mit ihnen unterwegs waren. Als Headliner sind wir gerade dabei, eine Liste mit Combos, die für uns eröffnen könnten, durchzuchecken. Biohazard oder Sick Of It All wären klasse, weil wir mit ihnen befreundet sind."

John grübelt.
"Kyuss oder CIV..."

"Ich kenne Craig von Sick Of It All noch aus seinen Kindertagen, als er seinen ersten Baß bekommen und in Steve Harris-Pose mit Spandex-Hosen vor dem Spiegel geübt hat...", lacht der ehemalige Hardcore-Freak, während Edel-Metaller Bush sinniert: "Mir ist es wurscht, mit wem wir touren. Hauptsache, die Band bringt so viel Energie auf, daß sie mich umhaut. Das kann auch Volksmusik sein. Warum nicht?"


Oder ´ne Death Metal-Kapelle...
"Ich bewundere diese Bands. Mein absolutes Lieblingsbilling wäre: Ministry, Cannibal Corpse und Anthrax."
"Yeah!" entfährt es mir. "Früher habe ich mich über Death Metal kaputtgelacht. Die Drummer und Gitarristen spielen unglaublich. 150 Riffs pro Minute... Ich wundere mich, wie die das mit dem Timing hinbekommen. Vor Jahren habe ich mich noch über den Gedanken amüsiert, daß Bon Jovi einen ANTHRAX-Song wohl nie covern könnten. Dieses Death Metal-Zeug hat´s aber musikalisch verflixt in sich... Eigentlich müßte ich von diesen Bands auch noch einige Credits für S.O.D. bekommen, weil wir damals schon superschnelle Beats draufhatten", meint der ANTHRAX-Gitarrist lachend.

Hanno Kress

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