ROCK HARD 190 New York, New York! Interviews mit Scott Ian von ANTHRAX sind immer unterhaltsame Selbstläufer. Während man manch anderem Musikanten jedes Statement einzeln aus den Rippen leiern muss, haut der Chef der New Yorker Crossover-Pioniere in der Regel druckreife Satzkanonaden raus. Bevor unser rasender Reporter Zompf allerdings zur Tat schreiten konnte, musste er zunächst einen Halbmarathon durch Manhattan absolvieren... Scott Ian ist in seinem Element, denn ganz offensichtlich braucht es nicht mehr als die Geschäftigkeit eines Samstagnachmittags in Manhattan, einen strahlend blauen Himmel und knackige Temperaturen um den Gefrierpunkt, um seiner Vorstellung von einem perfekten Tag nahe zu kommen. Das, was ursprünglich als kurze Fotosession geplant war, ist längst zu einer amtlichen Sightseeing-Tour quer durch den Big Apple geworden. Seit mehreren Stunden marschiert der ANTHRAX-Gitarrist im strammen Stechschritt durch die Straßenschluchten und versprüht dabei mindestens so viel Energie wie seine pumpenden Riffs auf dem neuen Album "We´ve Come For You All". Neben der kostenfreien, aber bewegungsintensiven Führung zu den Orten der Stadt, die für die Bandkarriere von Bedeutung waren, kommen wir zudem in den Genuss diverser Anekdoten. So erfahren wir beispielsweise nach einem kurzen Zwischenstopp bei einer Starbucks-Filiale, der dem unter der Last seiner Kameraausrüstung ächzenden Fotografen Marc Villalonga zuliebe eingelegt worden war, dass der frühere Guns N´Roses-Basser Duff McKagan angeblich einen nicht unerheblichen Teil seines Privatvermögens der Weitsicht seines Anlageberaters verdanken soll. »Wie Duff stammt Starbucks aus Seattle, und bevor die Kaffeebuden ihre Expansion in Amerika und dem Rest der Welt angetreten haben, hat er in Aktien des Unternehmens investiert. Über die Jahre dürfte er eine nette Rendite eingestrichen haben«, erzählt Scott, ehe er vorschlägt, mit der Fähre nach Ellis Island zu fahren. Obwohl der Plan wegen erster Erfrierungserscheinungen unsererseits verworfen wird und wir stattdessen in einem gut geheizten Restaurant landen, enthüllt der passionierte Powerwalker bereitwillig die besondere Bedeutung, die die Insel in der eigenen Familiengeschichte einnimmt: »1918 flüchtete mein Großvater während des Ersten Weltkriegs aus Polen und reiste von Amsterdam nach New York. Da er keine Ausweispapiere besaß, wurde er zurückgeschickt und versuchte es anderthalb Jahre später erneut. Vor seiner Einreise musste er auf Ellis Island die Gesundheitskontrollen durchlaufen. Um sich über Wasser zu halten, hat er Gemüse sortiert und auf den Straßen der Lower East Side geschlafen, aber 1934 hatte er genügend Geld angespart, um sich einen eigenen kleinen Laden zu kaufen und seine Eltern aus Polen nach Amerika zu holen. Auf Ellis Island gibt es heute ein Archiv, in dem alle Einwanderer registriert sind, und dort habe ich die Unterlagen meines Großvaters und ein Foto von dem Schiff, mit dem er ankam, gefunden. Meine Familie hat dieser Stadt eine Menge zu verdanken.«Geboren und aufgewachsen im Stadtteil Queens, gehört der heutige Wahlkalifornier Scott Ian nach wie vor zu den größten New-York-Fans. Und zumindest in der Musikszene des Big Apple hat er deutliche Spuren hinterlassen, wie die Sightseeing-Tour bewiesen hat. Neben dem Electric Ladyland-Studio von Jimi Hendrix, in dem ANTHRAX in den achtziger Jahren Alben wie "State Of Euphoria" oder "Persistance Of Time" gemixt haben, spielten vor allen Dingen das mittlerweile geschlossene Ritz und der Madison Square Garden eine herausragende Rolle in der Konzertkarriere der Band. »Nach einer ausverkauften Show im Ritz wurden wir 1985 von Island Records unter Vertrag genommen«, erinnert sich Scott. »Im Madison Square Garden habe ich 1977 Kiss gesehen und wollte danach unbedingt Musiker werden. Als wir dort 1991 eine Headlinershow spielten, war das der Ritterschlag für uns - diesen Triumph kann mir niemand mehr nehmen! Als Zugabe spielten wir zum ersten Mal ´Bring The Noise´. Als wir Public Enemy auf die Bühne holten und mit ihnen gemeinsam den Song anstimmten, sind die Leute komplett durchgedreht.« Und ANTHRAX festigten mit diesem Joint-Venture ihren Ruf als experimentierfreudige Metal-Band. Schon 1985 hatten Scott Ian und Charlie Benante mit dem legendären S.O.D.-Debüt "Speak English Or Die" den Brückenschlag zwischen Metal- und Hardcore-Fans vollzogen, nun folgte die Annährung an die Rap-Szene, die von einigen erstaunlichen Erkenntnissen begleitet wurde. Lachend erzählt unser Gesprächspartner vom Beginn der Tour, als zwei völlig unterschiedliche Welten aufeinander prallten: »Als wir in die Halle kamen, lungerten die Public Enemy-Jungs mit ihren Freunden herum und spielten Football. Wow, dachten wir - sind die cool, die haben alles im Griff. Die müssen nicht mal mehr einen Soundcheck machen! Beim Konzert gingen ihre Songs dann aber im Lärm von Rückkopplungen unter, und sie hatten technische Probleme ohne Ende, was ihnen sichtlich peinlich war. Später kam Chuck D. zu unserem Tourmanager und gestand kleinlaut, dass sie nicht die geringste Ahnung hätten, wie man eine solche Tour angehen müsse. Sie hatten keinen Sound- und keinen Lichtmann, und unsere Crew brachte ihren mitreisenden Freunden schließlich die grundlegenden Dinge bei. In seiner Biographie hat Chuck D. dieser Tournee ein ganzes Kapitel gewidmet und sie als brutalen Lernprozess für Public Enemy bezeichnet.« Nichts anderes als einen Lernprozess, allerdings einen der verzichtbaren Art, haben auch ANTHRAX in jüngster Vergangenheit durchlaufen müssen. Vier lange Jahre sind vergangen, seit die Band mit "Volume 8 - The Threat Is Real" ihr letztes Studioalbum abgeliefert hat. Endlich steht jetzt die neue Scheibe "We´ve Come For You All" in den Startlöchern, aber die schier endlosen Querelen mit der früheren Plattenfirma haben Scott an den Rand eines Magengeschwürs getrieben. Angesprochen auf das unschöne Thema, schiebt er das eben servierte Essen achtlos zur Seite und redet sich in Rage. »Nach "Volume 8" wechselten wir von Ignition zu Beyond Records, die bald darauf die Best-of-Compilation "Attack of The Killer A´s" veröffentlichten. Wenig später mehrten sich dann schon die Gerüchte, dass die Firma kurz vor der Pleite stehen würde. Wir versuchten alles, um wieder aus dem Deal herauszukommen, aber es wollte einfach nicht klappen. Unser Manager trat ihnen ständig auf die Füße und sagte, dass sie das neue Album auf keinen Fall bekommen würden, denn wir wollten uns von ihnen nicht die Karriere ruinieren lassen. Irgendwann wollten Sanctuary Records Beyond aufkaufen, wir dachten, alles würde sich zum Guten wenden, aber nachdem die Firmen zwei Monate lang verhandelt hatten, platzte urplötzlich das Geschäft, und unsere Zukunft war wieder ungewiss. Kurz bevor wir mit Motörhead auf Europatour gingen, bekamen wir das Okay, uns bei anderen Labels bewerben zu dürfen, aber als wir zurückkamen, waren sie endgültig pleite, und die Bank, die die Konkursmasse übernommen hatte, wollte uns nicht freigeben! Erst gestern sind endlich die letzten Verträge unterschrieben worden, die uns unsere Freiheit wiedergeben. Wir sollten heute Abend feiern gehen«, lacht Ian. »Im Ernst: Wenn ich dieses Hickhack nicht miterlebt hätte, würde ich es nicht glauben. Zeitweise fühlte ich mich wie der Hauptdarsteller in einer Schmierenkomödie. Das einzig Gute an der Situation war, dass wir von unseren Plattenfirmen in Europa und Japan Vorschüsse bekommen haben und "We´ve Come For You All" mit diesem Geld einspielen konnten. Als die Scheibe fertig war und wir sie herumschickten, flatterten uns auch diverse Angebote amerikanischer Firmen ins Haus. Wir haben jetzt bei Artist Direct unterschrieben, die über die BMG vertrieben werden. Mit Lava Records war auch eine Major-Company an uns interessiert, aber sie machten dann doch einen Rückzieher, weil sie der Meinung waren, unser Album im Falle eines weiteren Anschlags mit Anthrax-Sporen unmöglich veröffentlichen zu können! Scheinheiliger geht´s nicht mehr. Rückblickend muss ich mich jedoch bei Beyond bedanken, denn der ständige Ärger mit der Firma hat mich zum Songtext für ´Nobody Knows Anything´ inspiriert. Monatelang war es in der Band ein Running-Gag, "Don´t these fuckin´ people know anything?" zu brüllen, wenn mal wieder etwas schief ging. Aber Beyond sind nur die Spitze des Eisbergs, sie stehen stellvertretend für all die anderen Labels, die ohne Rücksicht auf die Musiker groß abkassieren wollen. Das ganze Musikgeschäft hat sich komplett zu seinem Nachteil verändert. In den Achtzigern gab es noch A&R-Leute, die Visionen hatten und ihre Bands über mehrere Jahre aufgebaut haben - heutzutage wird der Großteil der Plattenfirmen von unkreativen Businesshaien geführt, die nur auf Hitsingles und die schnelle Kohle aus sind. Aus diesem Grund werden ständig neue, beschissene Trends kreiert, was zur Folge hat, dass wir uns akustischen Sondermüll der Marke The Strokes, The Hives oder Avril Lavigne anhören müssen. God bless The Rolling Stones! Die einzigen Rockbands, die in den Neunzigern langfristig aufgebaut wurden, sind für mich die Queens Of The Stone Age und die Deftones.« Gut gebrüllt, Scott. Neben all dem Stress, den ihr mit eurem vorherigen Label hattet, gab es in dieser Zeit aber auch noch einen Line-up-Wechsel bei euch. Der wurde recht Business-untypisch, also ohne großes Getöse, vollzogen. Warum musste Paul Crook die Band verlassen? »Um ehrlich zu sein: Das kann ich bis heute nicht konkret begründen. Paul war seit 1995 bei ANTHRAX, aber irgendwie haben wir ihn nie als wirklich festes Bandmitglied betrachtet. Er war immer der Gitarrist, der für Dan Spitz zu uns gekommen war und der nicht mal auf den Bandfotos auftauchte. Lass es mich so sagen: Es gibt Typen, die mit ihrer Freundin nicht glücklich sind und sie deshalb ständig betrügen. Bei uns war es nicht anders, denn auf unseren Alben hatten wir Leute wie Darrell von Pantera, die Gitarrenparts für uns einspielten! Als wir letzten Endes erkannten, dass wir uns nicht deutlich genug zu Paul bekennen, war klar, dass wir die Situation ändern mussten. Der neue Mann, Rob Caggiano, hatte sich 1995 ebenfalls bei uns beworben und danach bei Boiler Room gespielt (die 2000 das Album "Can´t Breath" veröffentlichten - tk). Zwischenzeitlich hatte er seine Klampfe an den Nagel gehängt und mit Scrap 60 eine Produktionsfirma gegründet (die u.a. Dry Kill Logic, 36 Crazyfists und die neue Cradle Of Filth-Scheibe soundtechnisch veredelte - tk). Wir haben ihm den Job angeboten, er hat akzeptiert und mit uns gemeinsam "We´ve Come For You All" produziert. Ich bin total glücklich über diese Entscheidung, denn Rob ist zehn Jahre jünger als wir und hat uns einen echten Tritt in den Hintern verpasst. Er holte im Studio das Letzte aus uns heraus - John und Charlie haben ihn fast jeden Tag verflucht. Charlie spielt seine Songs ja immer in einem Take ein und weigert sich, sie zusammenschneiden zu lassen. Rob hat ihn echt gefordert. Frag mal Charlie, wie viele Trommelfelle und -stöcke er während der Aufnahmen zerlegt hat, hahaha!« Trotz des Einstiegs von Rob seid ihr eurer Tradition treu geblieben und habt mit dem unvermeidlichen Darrell und Roger Daltrey zwei exquisite Gäste an der Scheibe mitwirken lassen. »Darrell werden wir nie mehr los«, grinst Scott. »Ich kenne ihn schon seit den Achtzigern, als Pantera noch ANTHRAX-Coversongs gespielt haben. Als wir uns in Dallas auf der Priest-Tour getroffen haben, meinte er zu mir (ahmt dabei Darrells breiten Texas-Akzent nach): Hey boys - ihr macht also `ne neue Platte? Dann werde ich diesmal vielleicht unentgeltlich mitmachen.« Was für ein Typ... Er hat ja schon auf den vorherigen zwei Alben Gitarrenparts beigesteuert und will sowieso nie bezahlt werden! Wir bezahlen ihn immer in Naturalien. Für die erste Scheibe hat er einen großen Fernseher und für die zweite eine Digitalkamera geschenkt bekommen. Auf "We´ve Come For You All" hat er an den Songs ´Cadillac Rock Box´ und ´Strap It On´ mitgearbeitet. Dem ersten Stück hat er nebenbei noch den Titel gegeben. Als Intro ist die Nachricht zu hören, die er auf Charlies Anrufbeantworter hinterlassen hat. Besagte Cadillac Rock Box ist nichts anderes als sein riesiger Truck, in den er ein gigantisches Soundsystem eingebaut hat und in dem er gerne mal Gitarre spielt. Aber bei ´Strap It On´ hat er einen absolut perfekten Job abgeliefert. Im Text heißt es: "Take me back to the golden time, from ´75 to ´79; take me back to the heavy time from ´85 to ´89", und Darrell hat dieser Liebeserklärung an die guten alten Zeiten mit dem Riff des Judas Priest-Songs ´Love Bites´ zusätzlich Nachdruck verliehen. Mehr Old School geht nicht!« Eine lebende Legende wie Roger Daltrey von The Who zum Mitmachen zu überreden, dürfte weitaus schwieriger gewesen sein, oder? »Er ist mein absolutes Idol, und ich kann es immer noch nicht fassen, dass er auf dem Titelstück singt«, begeistert sich Scott. »Ich habe ihn bei einem gemeinsamen Abendessen über Meat Loaf, der der Vater meiner Freundin Pearl ist, kennen gelernt. Folgende Situation: Wir sitzen in diesem Restaurant, Roger erzählt seit Stunden die unglaublichsten Geschichten über Keith Moon und Pete Townshend, und plötzlich sagt Pearl: "Roger - Scott nimmt mit seiner Band auch gerade eine Platte auf. Hättest du nicht Lust, darauf zu singen?" Ich bin vor Scham fast im Boden versunken, aber Roger meinte nur: "klar, kein Problem, ruf mich an" - und gibt mir seine Handynummer! Ich fühlte mich wie im siebten Himmel, aber es wird noch besser: Am Nebentisch sitzt The Edge von U2, den ich schon ein paar Mal getroffen hatte. Als wir gehen, steht er auf und bittet mich darum, ihm Roger Daltrey vorzustellen! Da steh ich kleines Würstchen nun und mache den Gitarristen der momentan wohl weltgrößten Band mit dem Sänger einer der drei größten Bands aller Zeiten bekannt! Ich bin noch Tage später auf Wolke sieben geschwebt.« Ein weiterer Superstar, der an "We´ve Come For You All" mitgearbeitet hat, ist Comiczeichner Alex Ross. »Dass er das Artwork des Albums gestaltet hat, ist das finale Bonbon. Alex Ross ist momentan in Amerika der angesagteste Zeichner überhaupt. Er illustriert Sachen wie Superman und ist für Comic-Fans und -Sammler wie Charlie und mich der Allergrößte. Er hat das Cover wohl mehr als Gefallen an uns gesehen, denn wir konnten ihm natürlich nicht die hunderttausend Dollar zahlen, die er sonst für so einen Auftrag bekommt. Aber er machte uns nicht nur einen superfairen Preis, sondern stellte uns auf dem Albumcover auch noch als Superhelden dar. Endlich kriegt jeder mit, wie toll und unbesiegbar wir sind!« Das Cover zu eurer ersten Singleauskopplung ´Safe Home´ hat er im selben Stil wie das Albumcover illustriert. Überhaupt ist ´Safe Home´ der kommerziellste, weil eingängigste Song des gesamten Albums... »Und weißt du auch, warum? Weil das der erste Song ist, den ich in einer glücklichen Beziehung geschrieben habe! Endlich habe ich eine Freundin, die mich so mag, wie ich bin, und die mich nicht verändern will. Ich habe gar nicht mehr daran geglaubt, dass es noch echte Liebe gibt, denn im Jahr 2000 kam ich am seelischen Tiefpunkt meines Lebens an. Ich hatte meine zweite Scheidung hinter mich gebracht und war komplett am Ende. Mit meiner zweiten Ehefrau war ich von 1989 bis 1997 zusammen, dann haben wir uns getrennt. Sie hat mir das Leben zur Hölle gemacht und mich finanziell abgezogen. Ich wollte nie mehr eine feste Beziehung, habe mich gehen lassen und ziemlich viel getrunken. Da stand ich nun, war 36 Jahre alt und hatte das Gefühl, in meinem Leben noch nie etwas auf die Reihe bekommen zu haben - der totale Horror. Pearl habe ich auf unserer gemeinsamen Tour mit Mötley Crüe kennen gelernt, denn sie war mit ihnen als Background-Sängerin unterwegs. Wir haben uns sofort gemocht, aber zusammen ausgegangen sind wir erst später, denn auf dieses "Musiker trifft Frau auf Tour"-Ding hatten wir beide keinen Bock. Sie hat mir gezeigt, dass es Frauen gibt, die sich um dich kümmern und nicht nur rumnörgeln und nebenbei deine Konten leer räumen. Den Text zu ´Safe Home´ habe ich in zehn Minuten geschrieben, er sprudelte einfach so aus mir heraus, und ich denke, dass die Nummer das Potenzial zum Radio-Hit hat. Ich war immer etwas neidisch auf Faith No More, denn die haben es stets geschafft, gefühlsbetonte Songs mit geilen Melodien zu schreiben und dabei den triefenden Pathos einer Band wie Creed zu vermeiden. Mit dieser Single sind wir zumindest mal in die Nähe ihrer Klasse gekommen.«Die Beziehung zu Pearl ist dann wohl auch nicht ganz unschuldig an der Tatsache, dass euer früherer Gitarrist Paul Crook jetzt bei Meat Loaf spielt, oder? »Ja, man könnte sagen, dass ich ihm diesen Job besorgt habe. Wir haben Meat Loaf Paul empfohlen, aber letztlich hat er den Job nur bekommen, weil er ein guter Gitarrist ist. Beziehungen alleine hätten da nicht ausgereicht. Für Paul freut es mich total, zumal er jetzt weitaus mehr Geld verdient, als er je bei ANTHRAX gemacht hat (lacht).«Kommen wir zurück zum Album: Ein weiterer Song, der durch seine textliche Aussage heraussticht, ist ´Refuse To Be Denied´. »Ein sehr politischer Song, den ich nach den Terroranschlägen des 11. September geschrieben habe. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass Freiheit das Geburtsrecht eines jeden Menschen ist und dass einem niemand dieses Recht absprechen darf. Nach den Attentaten haben viele Menschen in der ganzen Welt ihr Leben umgestellt und sich dadurch ihre persönliche Freiheit beschneiden lassen. In Amerika war es so, dass man prinzipiell Massenveranstaltungen gemieden hat und sich kaum noch jemand traute, in ein Flugzeug zu steigen. Ich werde mein Leben nicht ändern und ängstlich zu Hause sitzen oder nicht mehr reisen, denn dann hätten die Terroristen doch genau das erreicht, was sie wollten. Die Al Quaida vertritt ohnehin eine tolle Philosophie: 3.000 Menschen im Namen Gottes umzubringen, ist doch total krank.« Mit der Formulierung "bandwagon patriot" im Songtext greifst du all jene Leute an, die den momentan extrem ausgeprägten Patriotismus in den USA unterstützen. Diese Art von Kritik dürfte gerade jetzt ziemlich unpopulär sein... »Ah - wir kommen zu meinem Lieblingsthema. Ich fand es unglaublich, dass nach den Anschlägen plötzlich jeder mit einer USA-Fahne herumwedelte. So was macht dich nicht automatisch zu einem besseren Menschen. Besonders krank finde ich die Typen, die ihre Fahnen auf Riesen-Jeeps durch die Gegend fahren. Diese Kisten verbrauchen dermaßen viel Sprit, dass ihre Besitzer für den Krieg um Öl mit all seinen Auswüchsen mitverantwortlich sind. Ich könnte kotzen, wenn ich auf den Straßen von Beverly Hills irgendwelche degenerierten Freaks mit ihren geländegängigen Monster-Trucks herumfahren sehe. Der Grund für unsere Abhängigkeit vom Öl ist der Geisteszustand mancher Amerikaner.« Ich habe das Gefühl, dass du mit deiner Meinung hier ziemlich allein auf weiter Flur stehst. »Nein, so denken sehr viele Leute in Amerika«, ereifert sich Scott, während am Nebentisch eine Frau aufsteht und beim Herausgehen den Satz: »Ich mag deine Einstellung - sie ist richtig« fallen lässt. »Danke. Amerika ist doch nur zur Supermacht aufgestiegen, weil wir die dreckigsten Hurensöhne der Welt sind! Seitdem wir die Unabhängigkeit von England erlangt haben, geht es uns doch nur um Machtgewinn und Machterhalt. Krieg ist das Mittel zum bloßen Zweck. Wir sind ein machtgeiles Land, das partout seine Führungsposition halten will. Ich bin kritisch genug, um das zu verstehen, und ich hasse Leute, die mich für solche Aussagen in die Nähe von Kommunisten rücken wollen.« So wie das dein Kumpel Billy Milano getan hat... »Genau. Aber Billy wäre auch der Erste, der zugibt, dass wir die größten Mistkerle dieses Planeten sind, sobald es um die Wahrung unserer Interessen geht. Wenn ich den Begriff "Weltpolizei" schon höre... Wir haben diese Rolle für uns gewählt, niemand anderes hat sie uns angetragen. Es geht nur um Geld und Einfluss. Wir können aus einigen Ländern unsere Truppen nicht abziehen, weil dann China an Macht gewinnt? Das ist mir doch egal! Wir sollten uns aus dem Nahen Osten zurückziehen, denn wenn wir Israel nicht so bedingungslos unterstützen würden, wäre die Situation dort nie so eskaliert. Wir haben in unserem eigenen Land so viele ungelöste Probleme: Es gibt zu wenige gute Schulen, die meisten Leute haben nicht mal eine Krankenversicherung - diese Dinge muss man verbessern. Ich habe mir mit meinen Freunden und meiner Familie meine eigene kleine Welt geschaffen und spiele in einer Band, über die ich mich mitteilen kann. Ich kann mich nicht um die Probleme der ganzen Welt kümmern - das schafft ja nicht mal Bono, haha! Ernsthaft: Amerika muss immer einen bösen Gegenspieler haben, gegen den es zu Felde zieht, denn so lenkt man von den eigenen Problemen ab. Früher hat Khomeini diese Rolle gespielt, heute Saddam. Manchmal kommt mir das alles vor wie ein schlechter Comic. Als Bush die Al Quaida "the evil doers" genannt hat, war es das für mich. Uuuuuuuuuh - noch Comic-mäßiger geht es doch gar nicht mehr! Wir führen Kriege gegen Personen, die wir früher selbst eingesetzt und unterstützt haben, was zu der Situation führt, dass sie uns mit Waffen bekämpfen, die wir ihnen geliefert haben. Mein größter Wunsch wäre, dass sich Bush senior irgendeines schönen Tages unter dem Einfluss einiger Flaschen Whiskey in ein Fernsehstudio begibt und auspackt. Der Typ kennt mit Sicherheit jedes schmutzige Geheimnis der vergangenen 20 Jahre!« Vielleicht würde er dann ja enthüllen, dass die amerikanischen Geheimdienste schon vor den Attentaten Informationen über einen bevorstehenden Angriff hatten und sie - aus welchen Gründen auch immer - ziemlich schlampig überprüft haben. »Ich bin kein Fan von Verschwörungstheorien, aber ich denke schon, dass unsere Geheimdienste irgendetwas gewusst haben. Vermutlich kannten sie keine Einzelheiten, aber sie müssen etwas mitbekommen haben. Sogar die argentinische Botschaft soll ja vor etwaigen Anschlägen gewarnt haben. Andererseits: Was hätten die Geheimdienste tun sollen? Hätten sie bekannt gegeben, dass irgendwann irgendwas passiert, wäre vermutlich eine riesige Panik ausgebrochen. Trotzdem hoffe ich inständig, dass es nicht unsere Geheimdienste waren, die uns in diese Situation gebracht haben, denn das würde mich total krank machen.« Du hast vorhin die Meinung vertreten, dass es besser wäre, wenn sich Amerika aus dem Nahen Osten zurückziehen würde. Das ist ein ziemlich überraschendes Statement, denn du bist ja selbst Jude. »Stimmt, aber nur der Abstammung nach, ich habe nie den jüdischen Glauben praktiziert. Mein Bruder und ich wuchsen zwar in einem jüdischen Viertel auf, aber wir wurden sehr liberal erzogen und mussten nie an religiösem Unterricht teilnehmen. Ich fand Religion schon immer heuchlerisch, denn wie kann man ausschließlich nach Regeln leben, die aus der Bibel stammen? Wer soll das Buch geschrieben haben? Gott? Come on - das ist so, als wären Frankenstein und Dracula reale Gestalten! Anfang der Achtziger habe ich für meinen Vater, der im Diamantengeschäft tätig ist, kleinere Aushilfsjobs und Botengänge erledigt, die mich meist zu irgendwelchen chassidischen Juden geführt haben. Das sind diese Ultraorthodoxen mit den Löckchen an den Schläfen, und die meisten von ihnen sind echte Arschlöcher. Die sind so krass, dass sie sogar Juden, die nicht chassidisch sind, wie Abschaum behandeln. Wenn die Typen Sex mit ihren Frauen haben, geht das so weit, dass sie zwischen sich und die Frau ein Bettlaken legen. Ich war in ihren Augen ein komplett Wahnsinniger, denn ich lief damals immer mit ´ner Metal-Kutte herum, auf die das Album-Cover des Priest-Klassikers "Sad Wings Of Destiny" genäht war. Aber weißt du, was wirklich Ironie des Schicksals ist? Meine Nachbarn in Los Angeles sind chassidische Juden, und an einem Feiertag klopften sie bei mir an und brachten einen Laib Brot vorbei. Sie haben meine Freundin und mich auch schon zum Essen eingeladen und sind wirklich netter, als ich es je für möglich gehalten hätte. Trotzdem machen wir natürlich ständig Witze über sie, so nach dem Motto "Meine Leute wollen mich wieder in ihren Club zurückholen", hahaha! Aber das schaffen sie nicht, denn ich bin nicht religiös. Neben wirtschaftlichen Interessen waren es immer religiös motivierte Engstirnigkeiten, die Kriege ausgelöst haben.« Szenenwechsel: Es ist später Abend. Scott, seine Freundin Pearl und eine Handvoll anderer Bekannter sitzen im Hinterzimmer eines italienischen Restaurants irgendwo in Greenwich Village. Es wird gegessen und getrunken, viel geredet und noch mehr gelacht. Rob Caggiano schwärmt von der neuen Cradle Of Filth-Scheibe, und Charlie Benante erzählt, dass man sich mit Billy Milano wieder ausgesöhnt habe ("Wir kennen uns schon so lange - da weiß man, wie man sich zu nehmen hat"). Auch Scott ist spürbar gelöst und plaudert aus dem Nähkästchen. Tom Morello sei bekennender Dio-Fan, und das Albumcover des Audioslave-Albums erinnere nicht zufällig an das Artwork der ANTHRAX-Scheibe "Stomp 442"; schließlich sei hier ein und derselbe Cover-Designer am Werke gewesen. Auch dürfe man sich in Kürze auf ein Merchandise-Gimmick der ganz besonderen Art freuen: Genervt durch den Presserummel, der während der Anschläge mit Anthrax-Sporen um die Band einsetzte, hatte man via Internet verkündet, sich in Basket Full Of Puppies umbenennen zu wollen. Da ist es nur logisch, dass das passende T-Shirt ein Körbchen voller kleiner Hunde präsentiert, über dem das Bandlogo in typischer Black-Metal-Schreibweise prangen wird. ANTHRAX haben ihren Humor also nicht verloren, und als wir Stunden später in den anbrechenden New Yorker Morgen hinauswanken, ist sie wieder völlig in Ordnung, die kleine Welt des Scott Ian. Fünf Dinge, die man laut Scott Ian während eines New-York-Besuchs unbedingt erledigen sollte:
Thomas Kupfer © ROCK HARD |